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Das eigene Weltbild zum Einsturz bringen

Autoren: Christoph Humnig & Peter Raidl

Je Person, die ihre Meinung nach der Lektüre eines einzelnen wissenschaftlichen Artikels um 180 Grad dreht, hat wahrscheinlich einfach noch wenig Wissen und Erfahrung um das entsprechende Thema. Andererseits gibt es die Gefahr, an dem eigenen Weltbild hängen zu bleiben und alle Gegenargumente gekonnt abzuwenden. Damit das nicht passiert, ist es hilfreich von Zeit zu Zeit eine Metaperspektive einzunehmen.

Identität und Weltbild

Das Ideal einer rein objektiven Wissenschaft bleibt ein unerreichbares Ziel. Gerade in Bereichen, in denen neben biologisch beschreibbaren auch mentalen Prozesse eine erhebliche Rolle spielen, ist Objektivität erschwert. Mentale Prozesse haben zwar eine biologische Grundlage, aber diese sind nur rückschlüssig interpretierbar (z.B. eine Coach-Coachee-Beziehung).

Das bedeutet gleichzeitig nicht das Ideal einer empirischen Wissenschaft ad acta zu legen: Gute Forscher*innen reflektieren ihre unabdingliche Subjektivität und erhalten sich Integrität. Aber das ist nicht immer so einfach. Der Druck richtig zu liegen und echtes Wissen zu mehren ist hoch. Dürfen Praktiker*innen und Forscher*innen irren? Wenn nicht, ist die Verteidigung der eigenen Forschung keine wissenschaftliche Angelegenheit mehr, sondern das Verteidigen des eigenen Egos und des sozialen Status. Von einem (erfahrungs-)offenen Geist kann nicht mehr gesprochen werden. Dieses Thema geht uns alle an. Sobald politische oder wissenschaftliche Positionen für die eigene Identität instrumentalisiert werden, ist es fast unmöglich eine Metaperspektive zu entwickeln, die uns für die subjektive Erfahrung öffnet.

Identifiziert sich eine Person sehr stark mit ihrem konkreten Weltbild, dient das Weltbild nicht mehr als Instrument, das auch mal überprüft werden muss, sondern dient als Klebstoff für die eigene Persönlichkeit.

Das Weltbild muss erhalten bleiben, damit eine Person im Gleichgewicht bleibt. Die Folge: Die Welt wird ausschließlich assimiliert, d.h. Erfahrungsinhalte werden in bestehendes Wissen eingefügt. Akkommodation, d.h. die Veränderung von mentalen Prozessen aufgrund von Erfahrungsinhalten findet kaum mehr statt.

Der Grund für dieses Phänomen ist keine charakterliche Schwäche des Individuums. Erfahrungsinhalte, die sich von der eigenen Weltsicht derart unterscheiden, dass Sie nicht assimiliert werden können, werden schlicht nicht oder in geringerem Maße wahrgenommen. Erfahrungsinhalte, die in das Weltbild passen werden andererseits aktiv mit Bedeutung aufgeladen.

 

They Saw A Game

Einer der klassischsten Texte zu diesem Phänomen ist die Studie „They Saw A Game“ von Albert Hastorf und Hadley Cantril von 1952 (Link). Ein Text, den wir nicht nur aufgrund seiner wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung sehr empfehlen. Die Untersuchung befasst sich mit der Wahrnehmung eines Footballspieles, welches das Team der Universität Princeton gegen dasjenige der Universität Darthmouth absolvierte. Student*innen der Universität Princeton und Student*innen der Universität Darthmouth gaben die Ereignisse des Spieles derart unterschiedlich wieder, dass die Autoren des Artikels interpretierten, dass nicht von einem Footballspiel gesprochen werden kann, sondern von vielen verschiedenen Spielen. Das Spiel als solches existiere nicht! Die Zuschauer*innen geben gewissen Ereignissen auf dem Spielfeld aktiv eine Bedeutung, anderen nicht. Die nicht-relevanten Elemente finden keinen Weg in die Wahrnehmung und werden aussortiert. Ein ganz normaler Vorgang der menschlichen Wahrnehmung und für den Alltag höchst brauchbar. Es wäre unglaublich anstrengend und nicht zielführend, Phänomene wie die Beziehung zu vertrauten Personen ständig aus einer Metaperspektive zu betrachten. Andererseits sollten wir nicht der bekannten Weisheit zum Opfer fallen und Dinge erst schätzen, wenn sie verloren gehen.

Die Frage nach Objektivität und Wahrnehmung sind für uns als Coaches von entscheidender Bedeutung. Wir geben konkrete Handlungsanweisungen und stehen in einem Verantwortungsbereich. Dabei stehen gerade professionelle Coaches immer wieder vor einem Dilemma: Wie sehr ist es nötig und vertretbar Komplexität zu reduzieren und dabei dennoch nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln?

Jeder Coach muss eine Story verkaufen, die besagt, dass das angebotene Produkt das Beste ist, das es auf dem Markt gibt. Dieses Produkt muss einfach genug sein, damit das Gegenüber keinen großen Aufwand benötigt, um es zu begreifen. Genialität ist simpel – oder eben doch nicht?

 

Ein offener Geist

Wir sind des Weiteren in unserem privaten Umfeld oft erschüttert, wie sehr Personen von Ihrem eigenen Weltbild überzeugt sind. Genannt seien hier vor Allem verschwörungstheoretische Inhalte und esoterische Heilanwendungen. Dabei werden angebliche alternative Deutungen wegen ihres alternativen Charakters als erfahrungsoffen charakterisiert. Das ist allerdings eine unzulässige Verknüpfung. Offenheit zeichnet sich nicht durch Andersartigkeit aus, sondern durch das Zulassen emotionaler Unsicherheit und kognitivem Zweifel.

 

Persönliche Werte als Orientierung

Die Unterscheidung von Weltbildorientierung und Werteorientierung ist von zentraler Bedeutung. Kant unterscheidet mit zwei seiner vier Fragen diesen Umstand: „Was kann ich wissen?“ und „Was soll ich tun?“.  Für unser alltägliches Handeln ist die zweite Frage von zentraler Bedeutung. Unsere Werte geben uns die Orientierung um das Erfahrene handlungsorientiert und nicht erkenntnisorientiert einzuordnen.

Wie die Welt ist bleibt für uns verborgen. Wie wir aber in Ihr Handeln obliegt sehr wohl unserer Kontrolle. Wo Unsicherheit und Angst vermieden wird, findet keine neue Erfahrung statt und damit keine Veränderung.

 

Was müsste passieren, damit ich meine Meinung zu X ändere?

Diese Frage kann ein mächtiges Werkzeug gegen die eigene Verblendung sein. Aber nur wenn sie gewissenhaft und ehrlich bearbeitet wird. Es ist auch sicher keine Frage, welche mit einer Minute nachdenken beantwortet werden kann – wohl eher mit einem Monat.

Sie ist die zentrale Frage mit der nicht nur das Thema an sich in den Fokus rückt, sondern zumeist unsere eigene Identität und unser Denkprozess an sich.

Diese Frage mussten sich in der Vergangenheit bereits viele Menschen stellen. Häufig war es wohl leider so, dass die Meinungen eher mit einer jüngeren Generation wegbrachen als innerhalb einer Person...

  • Was würde mich überzeugen, dass nicht die Erde das Zentrum ist, sondern die Sonne?
  • Was würde mich überzeugen, dass Aderlass keine gute Therapiemethode ist?
  • Was müsste passieren, dass ich Schizophrenie als Erkrankung und nicht als Wirkung eines Dämons anerkenne?
  • Was müsste passieren, dass ich glaube, dass Homosexualität eine natürliche Variation ist?

Auch heute noch müssen wir uns immer wieder besinnen und unseren Standpunkt auskundschaften. Für uns bei Embodymate stellt sich beispielsweise nicht nur die Frage wie wir die Embodiment-Theorie anerkannter machen und wie wir die klinische Relevanz der Theorie hervorheben. Wir müssen uns auch und vor allem fragen:

  • Was müsste passieren, dass wir die Embodiment Theorie ablegen und zum Beispiel eine neurozentrierte Theorie annehmen?

 Suchen wir bei unserer internen Forschung also nach Belegen für unsere Meinung oder bilden wir uns unsere Meinung nach den Belegen, die existieren?

Auch persönlich (Peter) stelle ich mir die Frage: Was muss passieren, damit ich eine voll vegane Ernährung für mich wieder ablege? – könnte ich das überhaupt? (siehe dazu auch diesen Post)

 

Warum ist das eigentlich so schwierig?

Die hier beispielhaft angeführten Fragen stellen eine Herausforderung dar, weil sie unser persönliches Weltbild angreifen. Werden sie nicht mit voller Absicht und klarer Intention angegangen ist das Experiment zum Scheitern verurteilt.

Wer seine Meinung ändert wird sozial und öffentlich scheinbar leicht angreifbar. Der eigene Beruf oder sogar enge Freundschaften können an diesen Weltbildern hängen. Möglicherweise hat man in der Vergangenheit viel Zeit und Energie aufgewendet, um die eigene Meinung aufzubauen und zu vertreten.

Als Sportwissenschafter (Peter) und Psychotherapeut (Christoph) haben wir uns gewissen Ideen stark verschieben. Es ist uns ein leichtes einen Bericht zu lesen, der eine pharmakologische Therapie bei Depression als wirksamer zeigt als aktive Therapieformen und in dem Bericht irgendein Schlupfloch zu finden, um unser Weltbild nicht zu beschädigen. Der Bericht wurde dann gekauft, die Studienergebnisse spiegeln nicht die Realität wider, die Stichprobe war schlecht gewählt oder zu klein oder nicht auf die richtige Art randomisiert, die Studie war zu kurz, es wurden zu viele Personen ausgeschlossen, und so weiter… Natürlich, das sind doch triftige Gründe ein Studienergebnis abzulehnen, oder?

 

 

Das Anhaften am eigenen Weltbild ist eine evolvierte, sinnvolle Heuristik (oder ein Bias?), die uns vor der Missgunst unserer Ingroup schützt und uns eine stabile Persönlichkeit vorgaukelt. Nur so können wir in einer komplexen Welt überhaupt funktionieren. In einigen Bereichen unseres Wirkens sollten wir uns jedoch um den Einriss eines Weltbildes kümmern, uns selbst eine Art Test unterziehen. Antifragile Theorien werden bestehen bleiben und gestärkt hervorgehen. Die anderen müssen jedoch weichen damit wir uns weiterentwickeln.

Welches Weltbild möchtest du versuchen zum Einsturz zu bringen?

 

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